Ich stand vor meiner Staffelei und dachte an diese eigenartige Anziehungskraft, die von ultranaiven Bildern ausgeht, für die die Bildlichkeit so etwas wie eine einfache Sprache darstellt, die statt Syntax und Grammatik auf so etwas wie Assoziation setzt. Dabei werden die Bilder gerne mit Worten versetzt, die das, was man sowieso schon sieht, auch noch doppeln, eine Art Zeichen-Overkill. Dieses Bild war das Ergebnis.
Im 3. stock
Die Wohnung, in der ich zur Welt kam und in der ich bis zu meinem achten Geburtstag aufwuchs, lag im dritten Stock eines Mietshauses. Über uns war nur noch der Wäscheboden, eine kleine Dachwohnung, die sich unter die Schrägen duckte und einige Verschläge, die auf mich wie kleine Zimmer wirkten. Die Wohnung im 3. Stock war eigentlich die Wohnung der Mutter meiner Mutter, die hier als Arztwitwe mit ihren drei Töchtern und einem Sohn schon in den vierziger Jahren in bescheidenen Verhältnissen gelebt hatte. Der einzige Sohn war noch in den letzten Kriegswochen des Zweiten Weltkriegs eingezogen worden und nach wenigen Tagen einen sinnlosen Tod gestorben. Die älteste Tochter hatte einen guten Job im Sekretariat eines Direktors der Bayerwerke und zog in eine eigene Wohnung, so dass Platz wurde für meinen Vater, der eine der verbliebenen Töchter der Witwe geheiratet hatte. Zwei Zimmer in dieser Wohnung waren die „Keimzelle“ des jungen Paars. In dem kleineren Zimmer stand ein Klappbett und mein Kinderbett, in dem Wohnzimmer diente eine Schlafcouch meinem Vater als Schlafstätte, wenn er, wie so oft zu Anfang seiner Berufstätigkeit als Architekt, erst spät am Abend nach Hause kam und seine Frau und seinen kleinen Sohn nur noch schlafend vorfand.
Die Räume der Wohnung mussten allesamt eigenhändig Ofen für Ofen geheizt werden. Jeden Tag mussten dafür aus dem Keller die Kohlen heraufgeschleppt werden. Dort lagen sie hinter aus ungehobelten Holzlatten gebauten Verschlägen, die jeweils einer Mietpartei zur Lagerung des Brennmaterials überlassen waren. Sperrmüll, der heute an jeder Sinnhaftigkeit von Kellern zweifeln lässt, war noch kein Thema. Manchmal lag ein alter Stuhl auf den Kohlen oder eine zerbrochene Wein- oder Obstkiste. Aber diese Dinge warteten nur darauf zu Anmachholz zersägt zu werden. Wenn man in die Verschläge schaute, sah man im Schein einer nackten Glühbirne die Kohlen liegen, feucht und schwitzend. Kondenswasser, das aus diesem Keller nur schwer hinaus konnte, hatte sich auf ihnen gebildet und schimmerte durch die Holzstäbe. Den Grund dafür hätte man ein oder zwei Türen weiter entdecken können, denn versperrt durch die älteste Tür des Kellers, die aus Eichenbohlen gefertigt in schweren eisernen Angeln hing, gelangte man an den Waschtagen zu dem großen kupfernen Waschkessel, in dem man, von einem Kohlefeuer unterhalb des Kessels aufgeheizt, die Waschlauge zubereitete. Dann kam die Wäsche hinein und wurde unter stetigem Rühren mit einem paddelartig geformten großen seifengrauen Holzlöffel, der ungefähr die Armlänge eines Erwachsenen hatte, in Bewegung versetzt.
Auf der gleichen Seite des Ganges öffnete sich ein Raum, in dem die Mülltonnen rechts und links jeweils in Reihen an den Seitenwänden entlang standen, schwere kleine metallene, kaum Kniehöhe erreichende Tonnen, deren Deckel mit einem Bügel verschlossen wurden, der gleichzeitig, wenn aufgestellt, als Tragegriff diente. Einmal in der Woche, wenn Abfuhrtag war, mussten die Tonnen auf die Straße gestellt werden. Das war der Anteil an der Hausarbeit, den die Männer hatten, wenn sie es nicht vergaßen. Oder wenn die Frauen vergessen hatten, sie daran zu erinnern, wenn sie in der Morgendämmerung das Haus verließen. Auf jeden Fall sprach die steinerne Treppe in den Keller mit ihren vielen kleinen Beschädigungen eine beredte Sprache von den Mühen dieser wöchentlichen Arbeit.
Diese Tonnen, so klein sie auch waren, enthielten den Müll einer ganzen Woche eines Haushalts. Wie wenig Raum dieser Müll damals beanspruchte. Das wundert den Betrachter aus heutiger Sicht, aber die Erinnerung findet schon bald einige der Gründe, seelige Zeiten.
So gab es in unserer Straße, nur hundert Meter voneinander entfernt, zwei Bäcker. Auf ihrer Gesamtlänge von ca. 600 Metern beheimatete diese Straße sogar vier Bäckereigeschäfte. Meine Mutter ging mal zu dem einen, mal zu dem anderen. Ich versuchte es, konnte aber in ihrem Verhalten kein System entdecken, sehr wahrscheinlich war es einfach eine praktische Äußerung Ihres Gerechtigkeitsempfindens. Wenn man aus dem dritten Stock die Steintreppe ins Parterre hinunter gegangen war, durchschritt man noch einen relativ großen Flurraum bis zur Haustür. Wenn man sie an einem Sonnentag öffnete, schoss ein Schwall blendenden Lichts in unsere Augen. Weitere zwei Stufen folgten, dann hatte man die Straßenebene erreicht. Hatten sich die Augen an die Helligkeit gewöhnt, konnte man auf der gegenüber liegenden Straßenseite einen Lebensmittelladen erkennen. Einige Kisten mit Äpfeln und Pflaumen, Möhren und Porree, sowie das bundweise angebotene Suppengemüse machten das deutlich. Im Laden selbst stand manchmal ein kleines Fass mit eingelegten Heringen, ein anderes Mal war es ein Fass mit Sauerkraut, Gurken oder Schnibbelbohnen. das waren sauer eingelegte Bohnen, mit denen man die nach diesen Bohnen benannte Suppe kochte. Und für die Kunden von morgen, die Kinder, die ihre Mütter beim Einkauf begleiteten, stand auf dem Verkaufstresen einer mächtiges Glas voll bunter Bonbons, die durch unsere sehnsüchtigen Blicke veranlasst, wie durch ein Wunder regelmäßig den Weg in unsere Hände fanden. Verpackungsmaterial wurde hier nicht gebraucht, man brachte zum Einkauf die passenden Gefäße mit. Hier gab es auch die runden Bündel Anmachholz, die von einem Draht zusammengehalten wurden und die Zündhölzer dazu. Als ich begann in die Schule zu gehen, wurde ich für kleinere Aufträge auch mal geschickt, um sie von der anderen Straßenseite zu holen. Ich brauchte kein Geld, es wurde einfach angeschrieben. Man kannte sich oder sagte den Namen. Die Straße war asphaltiert, es gab Bürgersteige. Aber tagsüber war wenig Verkehr. Die vereinzelten Autos der Bewohner verschwanden mit ihnen am Morgen und standen dann über den Tag vor den Werkstätten und Büros und kamen erst am späten Nachmittag wieder zurück und wurden genau da an der Bordsteinkante abgestellt, wo sie am Morgen „ihren“ Platz verlassen hatten. Einmal in der Woche kam der Schrotthändler, hielt sein dreirädriges Transportfahrzeug in der Mitte der Straße an, nahm eine Glocke, die einen dicken Stiel aus Holz hatte in die rechte Hand, formte mit der linken einen halben Trichter am Mund, und rief, während er die Glocke läutete, mit kräftiger, rauer Stimme hinauf zu den Fenstern auf beiden Seiten der Straße: „Lumpen, Eisen, Papier“ und es öffneten sich viele Fenster in diesem Straßenabschnitt. Teils war es die pure Neugier, teils aber auch um kurz nach unten zu rufen „Warten sie, ich komme sogleich hinunter, warten sie bitte“. Und wer etwas loswerden wollte, brachte es dem Mann, der mit seinen Bartstoppeln und den dichten Augenbrauen in einem vom Wetter gegerbten Gesicht irgendwie anders aussah. Es dauerte nicht lang, da kamen vereinzelt Frauen aus den Hauseingängen, oft Kittel oder Schürzen tragend. Mal war es ein Stapel Zeitungen, mal eine alte Lampe, oder abgelegte Kleider, deren Stoff nicht zum Putzen geeignet war. Man war froh, die Dinge los zu sein. Geld wechselte nur selten die Hände. zum Beispiel, wenn es Dinge aus Metall waren, die man anbot. Töpfe, Pfannen oder Werkzeuge. Dann entfernte sich der eigenartige Mann, fuhr mit seinem dreirädrigen Gefährt um die nächste Straßenecke und rief erneut seine Sätze die Hauswände hinauf.