schwimmen lernen
Es gab in meiner Kinddheit immer mal wieder diese sonnigen, warmen Sommertage, an denen meine Eltern mit uns Kindern, soweit wir schon existierten, ins Freibad gingen. Davon zeugen einige wenige Fotos in den Familienalben.. Andererseits kann es nicht so oft gewesen sein, denn ich erinnere mich an keinen routinemäßigen Ablauf solcher Freizeitaktivitäten, wie ich ihn als Vater von zwei Kindern aus einer anderen Perspektive in meinem späteren Leben kennengelernt habe. Ich hatte also gewisse Chancen das Schwimmen zu lernen, sie aber offensichtlich nicht genutzt. Ich ahne da einige unbeholfene Versuche, mich von meiner großen Skepsis zu erlösen, indem man mich in einen sogenannten Schwimmreifen steckte und dann unter Absingen imaginierter Wassergeräusche so schwungvoll durchs Nass zog, dass mir die entstehende Bugwelle zum Problem wurde – war ich eben noch sicher auf dem Arm, pflügte ich plötzlich durch kaltes Wasser, das mir in den schreckgeweiteten Mund zu schwappen drohte. Die diesen Aktionen zugrunde liegende Idee muss gewesen sein, dass ich das fremde Element nach dem ersten Schock als neuen Freund akzeptieren würde, weil es doch ach so erfrischend daher kam, so mitten im Sommer. Nein. Nein. Nein.
Einige Jahre später hatte ich das Schwimmen immer noch nicht gelernt. Das fiel in den ersten Volksschuljahren nicht besonders auf, denn niemand kam damals in den Schulen auf die Idee, mit kleinen Kindern schwimmen zu gehen. Also näherte sich die Zeit an der Grundschule ihrem Ende, und ich war ohne Schwimmkenntnisse. Meine Wassergewöhnung (wie man heute formulieren würde) war auch noch auf dramatische Weise unterentwickelt. Haare waschen war mir immer noch ein Graus, Duschen waren in den Haushalten der fünfziger Jahre kaum bekannt, also näherte sich meine Mutter mir mit diesem Wasser speienden Schlauch und setzte meinen Kopf unter Wasser, so dass mir im wahrsten Sinne der Worte Hören und Sehen verging. Ich durfte mir einen Waschlappen vors Gesicht halten, um das Schlimmste zu verhindern. Meine größte Befürchtung war, dass das Wasser irgendwie unkontrolliert in mich eindringt, und etwas in mir Schaden nehmen könnte. Eine Vorahnung gab mir das brennende Gefühl, das die noch nicht so modern-sensitiven Shampoos dieser Zeit in meinen Augen hinterließen. Irgendwie schaffte es das elende Shampoo immer wieder durch meine Deckung.
Meine Eltern waren also in Sorge, nachdem sie bei einem der ersten Elternabende auf dem Gymnasium von der Durchführung von Schwimmsportstunden erfahren hatten, dass ich auf dem Gymnasium zum Opfer von Hänseleien und Spott werden könnte. Sie konnten mich irgendwie davon überzeugen, dass es dringend sei, so schnell wie möglich Schwimmen zu lernen. Ich hatte so meine Erfahrungen mit Hänseleien, weil ich zwar ein leidlich unterhaltsamer Klassenkamerad war, aber nicht unbedingt den Bedarf nach Ranglisten Raufereien auf dem von der Pausenaufsicht nicht so gut einsehbaren gartenartig gestalteten Gelände hinter den Klassentrakten hatte. Ich wurde aber zu einigen dieser Auseinandersetzungen gezwungen, die ich insofern vergleichsweise ehrenhaft absolvierte, als ich das Muckireiten der Sieger ohne eine Träne über mich ergehen ließ, während ich meinem Kontrahenten großzügig einräumte, er habe gesiegt, aber dass diese Sportart nicht mein Turf sei, und ich deshalb keine übermäßige Gegenwehr leisten würde. Die Herausforderer ließen dann wirklich bald und nachhaltig von mir ab, zumal ich beim Pausenfußball mit den kleinen Bällen, die man damals manchmal beim Schuhkauf geschenkt bekam, durchaus mithalten konnte. Zum Glück für mich gab es scheinbar ergiebigere Opfer. Vielleicht fehlten aber auch nur die sadistischen Inspirationen, die heute durchs Fernsehen, DVDs und das Kino in endloser Reihe in die Welt der heutigen Kinder eindringen.
Ich hatte also zugestimmt und der Tag der ersten Schwimmstunde nahte. Es war kein guter Tag. Ich weiß nicht mehr den genauen Monat, aber in Leverkusen gab es, von dem Bad am Stadtrand zu Köln, das der Bayerkonzern dort für seine Mitarbeiter errichtet hatte, nur das Freibad, und das Wasser dort passte sich den Gegebenheiten an. Eine Wassererwärmung unabhängig vom Wetter war nicht vorgesehen. Und das Wetter war nicht gemütlich. Vielleicht war es ein Tag im Juni. Es regnete, die Luft hatte 14 Grad, während das Wasser immerhin 16 Grad hatte. Nach damaliger Lesart ein glücklicher Umstand, denn war die Luft kälter als das Wasser, wurde letzteres als durchaus warm bezeichnet. Welch ein Glück. fanden zumindest die Verantwortlichen, die sich an diesem denkwürdigen, von dunkelgrauen Wolken verhangenen späten Nachmittag zusammen gefunden hatten, um termingerecht mir die erste Lektion zu verabreichen. Ob zu meiner Unterstützung oder zur Kontrolle, mein Vater war mitgekommen, hatte mich mit seinem Citroen ID sicher zur Badeanstalt gefahren und antwortete jetzt dem Schwimmlehrer, der angesichts der Wetterlage eine Verschiebung anbot, ganz im Sinne seiner Verachtung von Feigheit vor dem Feind: „ach, wo wir schon mal hier sind…“ und forderte mich mit seinem Blick auf, ihm zuzustimmen. Ja Vati! Ich streifte also meine Alltagsklamotten ab, bis die Badehose zum Vorschein kam, die ich schon zu Hause auf Geheiß meiner Mutter untergezogen hatte. So ersparte man sich die große Peinlichkeit des Kleidungswechsels vor Ort. Dies war eine durchaus übliche Praxis. Selbst in späteren Jahren auf dem Gymnasium hatten die meisten Kinder an dem Tag, an dem der Sportunterricht auf dem Stundenplan stand, ihre Turnhose schon unter ihrer Tageshose angezogen. Auch nach der Stunde beließ man es dabei.
Zurück zum Gang der Ereignisse. Bei leichtem Nieselregen, es war wohl so 17.30 Uhr, durchquerten nun ein weitgehend unbekleidetes Kind, sowie drei Männer in angemessener, wetterfester Kleidung die Badeanstalt in Richtung Nichtschwimmerbecken, das ausgerechnet am anderen Ende lag. Dort angekommen wurde ich gebeten ins Wasser zu steigen, das beim Einstieg in dieses Becken mir nur bis zu den Oberschenkeln reichte. Man erklärte mir die richtigen Bewegungen für Arme und Beine und ließ mich diese im Wasser nachmachen. Ich sollte mich mit dem Bauch aufs Wasser legen, mit gestreckten Armen mich an der Überlaufrinne am Rand festhalten und die typische Grätschbewegung des Brustschwimmens nachmachen. Nach mehreren Wiederholungen und immer wieder erfolgten Korrekturen am Bewegungsablauf, kam dann die zweite Übung, zu der ich mich ins niedrige Wasser setzen sollte. Als ich saß, kam das Wasser gefährlich nah an die Kinnpartie heran. Nun galt es die Arme mit dieser seitlichen Schaufelbewegung einzusetzen. Auch hier mehrere Neuaufnahmen des Handlungsauftrags durch meinen Schwimmlehrer. Zwischendurch auch immer mal wieder anerkennende Gespräche der Erwachsenen am Beckenrand, die mich hätten stolz machen können, wenn nicht langsam die Kälte mir die Sinne geraubt hätte. Als ich dann noch einmal besonders meine Atmung beachten sollte, EIN & AUS + EIN & AUS, musste ich passen. Ein Zittern hatte mich ergriffen. Und obwohl die versprochene halbe Stunde Unterricht noch nicht ganz abgelaufen war, zeigte sich das Schwimmgericht gnädig und erlaubte mir den Rückweg in die Umkleidekabine. Weitere anerkennende Worte, an meinen Vater gerichtet, folgten, man sprach von Tapferkeit. Der Tapfere dagegen hatte Mühe in der ungeheizten Kabine sich die trockenen Sachen über zu streifen, hörte seinen Vater sich bei den Herren bedanken, dann rief er nach ihm und die Beiden fuhren schnell nach Hause, weil der Vater noch kurz ins Büro musste/wollte.
Kurze Zeit danach kamen wir zuhause an, meine Mutter, die uns schon erwartet hatte, kam uns entgegen, sie blickte erst mich, dann meinen Vater an, und ihr Gesicht verfärbte sich ins rötliche, während sie Vorwurfssalven aus ihrem Mund abfeuerte. Seit wann ist der Junge so bleich? Und diese blauen Lippen willst du nicht gesehen haben? Siehst du nicht, wie er zittert? Mein Vater war auf eigenartige Weise verstummt, murmelte kurz was von Büro, und meine Mutter setzte mich in die Badewanne und übergoss mich mit fast heißem Wasser. Zum ersten Mal war es mir recht. Eine Art von Erfolg. Der Fortschritt geht manchmal seltsame Wege.
Nach einer weiteren Schwimmstunde, weigerte ich mich, weiter am Unterricht teil zu nehmen, behauptete, ich würde mir den Rest selbst beibringen. Das gelang. Ich konnte endlich schwimmen. Aber ein begeisterter Schwimmer wurde ich nicht. Inzwischen, fast sechzig Jahre später, will ich auch keine neue Badehose mehr. Und die Alte habe ich weggeworfen. Wassergymnastik für Senioren. Nicht mit mir. Schluss. Finite. Aus. Basta!