Wie in der Musik, gibt es auch in der Malerei die Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe, mit der Vergangenheit und den Bildern, die andere, und vor allem natürlich unerreichbar größere Künstler gemalt haben. Allein die Anmaßung, ein geniales Gemälde in irgendeiner Form nachzumalen, ist ein wundervoll komplexes Gefühl, dem ich mich gerne aussetze. Mir geht es dabei nicht um den Versuch einer möglichst fehlerfreien Nachahmung, sondern eher um die Cover-Version eines Werks, wie sie in der modernen Pop- und Rockmusik verstanden wird, als einen Vorgang der eher spielerischen Aneignung der Vergangenheit des eigenen Metiers, die auch die Freiheit gibt, zu vereinfachen oder sogar zu ändern. Jetzt aber zu den Ereignissen, deren Ziel führende Idee Gustav Klimts Meisterwerk den Namen gab, auf der Ebene des Alltags, zumal eines noch jungen Jugendlichen aber, große Herausforderungen mit sich bringt.
der erste kuss
Es muss eine Vorgeschichte geben. Aber mein Gedächtnis schweigt. ich erinnere mich an fast nichts. Sie wohnte in der gleichen Siedlung, in der auch die Schwester meines Vaters mit ihren Kindern lebte. Es waren eng gestaffelte Reihenhäuser in mehreren Reihen. Cousin und eine Cousine gehörten zu einer informellen Gruppe Jugendlicher, die durch einen Zufall bedingt, in dieser Siedlung alle ca. zwei Jahre älter waren als ich. Entsprechend avancierter waren hier auch die Prozesse der Paarbildung. Wer geht mit wem? war hier ein Thema, das die Nachmittage beherrschte. Man ging zu Tanzkursen für Fortgeschrittene, während in meiner Klasse am Elternabend ohne das Wissen von uns Schülern Fragen darüber auftauchten, welche Tanzschule für uns Novizen zu empfehlen sei.
Da ich durch die Verwandschaftsbeziehung gelegentlichen Zugang zur älteren Gruppe hatte, nahm ich diese Kontaktmöglichkeit gerne wahr, stand auch inmitten der älteren auf der Straße rum und betrat auch mal eine Wohnung, die sich durch die vorübergehende Abwesenheit von Eltern anbot. In diesen „absolute beginners“-Cliquen ging es noch nicht um Sex im eigentlichen Sinn, der vage Respekt vor seinen möglichen Folgen war zumindest unter diesen Mittelschichtskids noch ungebrochen. Es ging ums Knutschen. Wer knutscht mit wem? war die Frage und der Akt des Knutschens war das Siegel darauf, ob man mit jemandem ging, also ein Paar war.
Gleichwohl blieb die Zuordnung prekär und konnte sich sehr schnell ändern. Es gab nur einen vagen, wenig elaborierten Kodex für richtiges Verhalten auf dem neuen Spielfeld. Es gab Übermut und Neugier, es gab so etwas wie übergriffiges Verhalten (nach heutiger Terminologie, ich würde es eher ungeschickt nennen) und es gab auch den Wunsch, dass es passieren möge. Es gab ein sprachloses Sehnen und es gab die scheinbare Großmäuligkeit der Ängstlichen.
In dieser Gruppe gab es nun „the perfect match“, das eine Mädchen, das zu mir passte. Sie gehörte schon zu den Eingeweihten, wie man mir zuflüsterte und dennoch war sie sogar ein Jahr jünger als ich. Irgendwann begann eine Kommunikationstätigkeit um mehrere Ecken. Man fragte mich, ob ich sie mag, ob ich sie hübsch finde, und zu guter Letzt, ob ich mit ihr gehen wolle. Gleiche Fragen wurden ihr gestellt. Und ich bin mir heute sicher, sie gingen nicht ursprünglich von ihr oder von mir aus. Das Kollektiv hatte uns ausgewählt – und trieb uns unaufhörlich aufeinander zu. So kam es zu einem Date, das keiner von uns mit dem Anderen verabredet hatte, dem wir aber offensichtlich zugestimmt hatten. Nur so kann ich mir das vollkommene Fehlen von Erinnerung an diesen Prozess der Annäherung erklären.
Offensichtlich hatte ich mich bereit erklärt, sie von Zuhause abzuholen, denn meine Erinnerung setzt bei dem darauf notwendigen Weg von ihr zu mir mit aller Macht ein. Wir gingen nebeneinander her, und ich fand sie wirklich ungeheuer attraktiv und ich genoss die Situation. Sie schien auch durchaus mit Vorfreude auf mich gewartet zu haben. Sie lächelte. Wir unterhielten uns mit einer gewissen Neugier über unsere Familien, die Schule usw.. Als wir aus der Siedlung heraus waren, fasste ich sie bei der Hand und sie ließ es geschehen. Das versetzte mich in den Zustand einer unwirklichen Tatsächlichkeit. Ich deutete ihre Duldung als einen unmittelbaren Ausdruck von Zuneigung und diese Vorstellung traf mich ins Mark. Da war zum ersten Mal in meinem Jungenleben ein Gegenüber vom anderen Geschlecht, der mich mit einer gleichen Ahnung wahrnahm, wie ich ihn. Heute würde ich sagen, und es klingt eindeutig zu explizit, als erotischen Partner, als Objekt einer Passion. In der Verschlungenheit unserer Hände begann so etwas wie das Mysterium der Liebe seine ersten Fühler in mein Leben auszustrecken. Aber diese Pflanze war von unendlicher Zerbrechlichkeit. Auch dies muss ich irgendwie gefühlt haben. Ich studierte die Blicke entgegenkommender Fußgänger oder Radfahrer. Nahmen sie uns wahr, belächelten sie uns. Aber ich erkannte keine Antworten, alle schienen mit sich selbst beschäftigt. Ich hatte eine Empfindung der Unsichtbarkeit, die immer wieder durch Wahnattacken einer absoluten Exponierthiet, ja der Nacktheit, der absoluten Transparenz, gestört wurden. Aber auch ein Gefühl, etwas Kostbares in meinen Händen zu halten, die mir gleichzeitig vermittelten, es nicht wirklich festhalten zu können.
Wir kamen bei mir zuhause an, und ich führte sie zu dem Kellerraum, der vor wenigen Wochen noch Spielkeller genannt und inzwischen von mir zu einer Art Begegnungsstätte umgestaltet worden war. Wo zuvor meine Trix-Eisenbahn ihre Runden gedreht hatte, wo wir Kaspertheateraufführungen für die jüngeren Kinder der Nachbarschaft veranstaltet hatten, stand jetzt eine Sitzecke, die aus dem Büro meines Vaters entfernt und durch eine neue ersetzt worden war, ergänzt durch ein altes Radio, sowie eine Schale mit Erdnüssen auf dem Tisch. Die Sitzmöbel hatten in einem angrenzenden Kellerraum gestanden, weil über ihre weitere Verwendung noch nicht befunden worden war. Sie hatten sofort meine Phantasie mobilisiert, und ich erkannte die Zeichen meiner Zeit. Gebraucht wurde ein Rückzugsort. Ein Raum, der ein für mich sein möglich machte. Denn oben in unserer Wohnung war es eng geworden.
Dort machten sich neuerdings zwei weitere kleine Geschwister (ein Zwillingspärchen) breit und hatten bewirkt, dass mein kleiner Bruder und ich sich einen Raum teilen mussten. So kam es, dass ich oft früher ins Bett ging als üblich, weil ich nicht recht wusste wohin, und er im Bett mehr und länger Musik im Radio hören musste, als er das davor getan hatte. Das sollte zumindest für ihn nicht folgenlos bleiben. Aber „Mädchenbesuche“ waren unter diesen Umständen keine praktikable Idee. Ein Zimmer im Keller, diese Idee muss irgendwann in dieser Zeit entstanden sein.
Ich führte mein Date also mit einem gewissen Stolz in meinen Kellerraum, folgte ihren Blicken durch den Raum, ich hatte sogar vorher staubgesaugt, bemerkte allerdings auch erste Anzeichen von Unruhe in mir, dem Gastgeber. Du musst sie küssen, wenn du mit ihr gehen willst, hatten mir die, die es wissen mussten, mit auf den Weg gegeben. Ja, ich bin bereit, hatte ich immer wieder zu mir gesagt. Aber jetzt war die Aufgabe konkreter geworden und ich wollte alles richtig machen. Ich durfte nicht scheitern und hatte zugleich keine Ahnung. Stichwörter, die mich tatsächlich im wahrsten Sinne stachen, malträtierten mein Hirn. KÜSSEN!!! Mit gespitztem , mit geschlossenem Mund, vielleicht erst einmal auf die Wange, zur Gewöhnung, oder vielleicht doch gleich mit der Zunge, aber wie (warum?) (ja was denn bloß?), mit offenem Mund, aber nicht soviel Spucke, hatte ich auch wirklich die Zähne ausreichend geputzt? Die Litanei meiner Bedenken hörte nicht auf und ich verfiel in eine Lähmung, die auch mein Sprachzentrum befiel. Es entstand eine Stille, in der sich die Sekunden und Minuten zu einer Zeitzeit dehnten, für die ich kein Gefühl mehr hatte. Jeder Versuch eine normale Unterhaltung zur Abfuhr der sich aufbauenden Spannung zu führen, endete in wenigen Worten, die keinen Sinn ergeben wollten. War sie nicht die Eingeweihte, von der ich Hilfe erhoffen durfte? Wenigstens einen Wink. Aber sie wartete geduldig, blieb aber auch selbst eigenartig still und bewegungslos, bis meine Not aus mir herausbrach: „Wie soll ich dich denn küssen?“. Als ob die ganze Zeit mir ein neben mir sitzender Unbekannter Aufforderungen ins Ohr geflüstert hätte. Nachdem es endlich gesagt war, schwand zwar alle Hoffnung auf eine Antwort, aber es fiel auch jegliche Spannung von mir ab. Der Zauber unseres Zusammenseins stürzte in sich zusammen wie ein Kartenhaus, das plötzlich Zugluft bekommen hatte, und ich war tatsächlich froh, als sie bald danach sagte, sie müsse jetzt nach Hause. Der Rückweg war nicht das Desaster, was er sehr wahrscheinlich in einem späteren Alter gewesen wäre. Ich nahm sie wieder bei der Hand, wie einen guten Freund, wir sprachen noch über dieses und jenes, es gab keine Ansprüche mehr, die uns überforderten, ich sagte Auf Wiedersehen, aber wir liefen uns in den folgenden Jahren nur noch selten über den Weg, und begannen unsere bald folgende Zeit der Verliebtheiten, als hätten wir schon damals gewusst, was eine RESET-Taste ist.
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