Ich erinnere mich noch an meine erste Zeit als junger autonomer Fußballfan. Autonom nicht nach heutigem politischem Jargon, sondern weil ich unabhängig davon geworden war, ob mich jemand wie mein Vater mitnahm ins Stadion. Autonom, weil ich nach eigener Sachlage und Stimmung beschloss zu den Spielen meines Vereins zu gehen, von meinem Taschengeld die Eintrittskarte am Kartenhäuschen kaufte und mir meinen Lieblingsplatz im Stadion aussuchte. Das war möglich, weil Stadien zu drei Vierteln aus frei wählbaren Stehplätzen bestanden und nur eine Längsseite mit überdachten Sitzplätzen , der sogenannten Tribüne, ausgestattet war. So war es in Leverkusen und in vielen anderen Fusßballstadien. Aber diese Sitzplätze waren teuer, und wir Schüler und anderes gemeines Volk teilten sich die Stufen der Stehplätze in den Kurven und auf der Gegengeraden. Ich hatte meine Freunde, die dort hinkamen und da ich Basketball spielte, gingen wir dorthin, wo sich die anderen Basketballer trafen. Das war auf der Gegengeraden, so ungefähr 30 m nach links von der Mittellinie und der Würstchenbude.
Ein besonderes Highlight war der fast vier Kilometer lange Fußmarsch, der mich vom Haus meiner Eltern zum Stadion führte. Nach ca. einem Kilometer traf ich auf erste Freunde, die mich schon erwarteten, und je näher wir dem Stadion kamen, umso mehr wurden wir und umso größer wurde die Vorfreude und die wohlige Spannung, die mit dem bevorstehenden Spiel verbunden war. Was mir aus heutiger Sicht bemerkenswert erscheint, ist die praktisch agressionsfreie Stimmung dieser Wanderung zum Spiel. Man beschäftigte sich nicht mit den Fans des Gegners. Man sah sich in ihnen, wenn man sich begegnete, man lächelte sie an, als ob man vor einem Spiegel stünde, man frotzelte vielleicht, aber als Teil eines gemeinsamen Vergnügens, dem man entgegensah.
Mein Verein war Bayer 04 Leverkusen und wir waren bei der Gründung der Bundesliga 1963 in die Zweitklassigkeit verbannt worden, weil wir nur um Haaresbreite gegenüber dem Meidericher SV im Ranking unterlagen. Diese Entscheidung warf Leverkusen viele Jahre zurück. Die in den letzten Spieljahren vor der Bundesliga aufgebaute erfolgreiche Mannschaft zerfiel (ich war selbst Zeuge einiger Siege gegen designierte Bundesligavereine in der letzten Oberligasaison geworden). Leverkusen musste einen Neuaufbau beginnen, und das fiel zunächst schwer und es sollte noch bis 1979 dauern, bis der Verein sein Ziel erreicht hatte und in die Bundesliga aufstieg.
In der Saison, in der sich die kleine folgende Geschichte abspielte, war die Situation vorübergehend noch übler geworden, denn Leverkusen war sogar aus der Zweitklassigkeit in die Amateurklasse abgestiegen (was mit dem Wiederaufstieg nach zwei oder drei Jahren wieder gerade gerückt wurde) und spielte dadurch auch gegen einige Vereine in der näheren Umgebung. Wie zum Beispiel an diesem Sonntag gegen die SG Eschweiler. Ein durchaus schlagbarer Gegner. Weil ich an diesem Wochenende in Leverkusen zu Besuch war, beschloss ich mit meinem jüngeren Bruder etwas zu unternehmen. Wir wurden uns schnell einig: Es sollte zu diesem Spiel gegen Eschweiler gehen. Ich nahm mir also den Autoatlas meines Vaters zur Hand und suchte Eschweiler. Obwohl offensichtlich ziemlich klein, hatte ich den Ort auf der Landkarte bald gefunden und mir einige Orientierungsdaten für die Fahrt notiert.
Bei bestem Wetter machten wir uns auf den Weg. Ich fuhr eine Ente (einen Citroen 2 cv), der klappbare Seitenscheiben hatte, so daß wir unseren Ellbogen aus dem Fenster in den Fahrtwind halten konnten. Ich hatte meinen Kassettenrecorder von Phillips dabei, die noch immer spielfähige robuste Erstausgabe von 1966, und wir hörten meine selbstfabrizierten Compilations von meinen Lieblingsaufnahmen der Rolling Stones. Mir hatten es besonders die langsamen, weitgehend mit akustischen Instrumenten eingespielten Songs, angetan. Von Play With Fire, Spider And The Fly bis zu Wild Horses und Sweet Virginia. Es war ein Moment automobiler Glückseligkeit, weil an diesem frühen Sonnennachmittag offensichtlich niemand einen Grund gefunden hatte, das Auto in Bewegung zu setzen. Ich erinnere mich an eine weit sichtbare Landschaft aus landwirtschaftlichen genutzen Feldern und hügelige, Bogen spannende Wiesen und Weiden. Dann lasen wir auf einem Richtungsweiser die Angabe ESCHWEILER 2km und folgten hoffnungsfroh der Angabe, näherten uns aber nicht einem kleinen Städtchen, sondern einem verschlafenen Dorf, über dessen Dächern die warme Luft flimmerte. Irritiert aber noch nicht verzweifelt folgten wir dann dem Schild SPORTPLATZ, aber kaum abgebogen, lag er schon vor uns. Außer einem Vater im Sonntagsstaat, der geduldig mit seinem kleinen Sohn die ersten Kickübungen machte, waren keine sportlichen Aktivitäten zu sehen. Wo waren unsere Fußballer und ihr Gegner.
In diesen schicksalhaften Momenten, wo alles , was man einmal über sich gedacht hat, in Frage gestellt ist, legt sich über das betroffene menschliche Wesen eine Art Trancezustand. Wie benommen, und ohne die Absurdität der Situation zu erkennen, steige ich also aus und frage, weil mir nichts Besseres einfällt: Ist dies hier der Fußballplatz von Eschweiler? Und der Angesprochene antwortet, ohne den Blick von Ball und Sohn zu wenden, kurz und prägnant mit JA. Gibt es vielleicht noch einen zweiten, frage ich, den Absurditätsfaktor noch steigernd. Nä, kommt die einsilbige Antwort. Aber irgendetwas muss seine Gedanken getriggert haben, denn er lächelt erst, dann wendet er doch den Kopf in unsere Richtung und wir hören gut verständlich, Aus Levverkusesinnse?“ Er schien doch zu irgendeinem Zeitpunkt unser Autokennzeichen erkannt zu haben: Dann sinnse hier fallsch. Mir sin nit datt Eschwaila, watt se am suche sin. ÄVVER …. und dann weist er uns so die grobe Richtung und wir fahren los. Jetzt umzukehren und wieder nach Leverkusen zu fahren, stellt keine Option dar. Also, so beschließen wir, das ziehen wir jetzt durch, und fahren zum wesentlich größeren Städtchen Eschweiler.
Aber des brauchte seine Zeit. Als wir dort ankommen, ist gerade Halbzeitpause, wir hören die Diskussionen, Leverkusen führt 1:0. Wir gehen durch die geöffneten Stadiontore ohne kontrolliert zu werden zu den Stehplätzen, ich spendiere meinem jüngeren Bruder und mir jeweils Pommes mit Ketchup, die Mannschaften kommen wieder aufs Feld, der Schiedsrichter hebt die Pfeife zum Mund, wir hören den Pfiff, wir schauen die zweite Halbzeit. Leverkusen ist das dominierende Team. Unsere Mannschaft verlässt folglich den Platz als deutlicher Sieger … was konnten wir mehr von diesem Tag verlangen.