Hallo liebe Besucherin, lieber Besucher, ich will gleich darauf hinweisen: dieses LP-Cover ist ein Erfundenes aus Gründen des Copyrights, das das ursprüngliche Cover schützt. Zweitens und noch mehr von Belang: dieser Text ist länger als die meisten anderen von mir verfassten auf dieser Website (derzeitiger Befund). Außerdem komme ich zu der titelgebenden Platte erst ganz zum Schluss. Davor erzähle ich so dieses und jenes, was in keinem inhaltlichem Zusammenhang mit der Platte steht, es kam mir einfach so in den Sinn. So ist das, wenn keiner mehr neben einem steht und sagt: Hausmeister, sie weichen vom Thema ab. Aber vielleicht hat es ja doch mit dieser Platte zu tun, jedenfalls in den Momenten, wenn ich sie höre, und vielleicht auch damit, wie ich sie höre. Mit dem, was ich empfinde, wenn ich sie höre. Vielleicht ist das aber auch ein Beispiel dafür, wie wir alle Musik hören, oder viele von uns, oder warum wir die eine Musik lieber als eine andere hören? Weil sie sich mit unserem Leben verbunden hat. Und natürlich auch dieses Leben mit vielen Leben verbunden hat und verbindet. So, dass wir die Verbindungen zwischen unseren so unterschiedlichen Leben erkennen. Etwas Allgemeines. Etwas Gemeinsames. Ich will mich also nicht für die Länge entschuldigen, aber ich möchte doch darauf hingewiesen haben. Entscheiden also müssen immer die Leserin und der Leser. Oh, oh, da möchte ich jetzt nicht in eurer Haut stecken bzw. andererseits: warum nicht?
Es war das Jahr 1968. Ich hatte gerade mein Abitur gemacht und war mit meinen drei Schulfreunden nach Domburg auf die Halbinsel Walcheren tief im Süden Hollands gefahren, um das Ende dieses Lebensabschnitts gebührend zu feiern und um den Stress des letzten halben Jahres wieder aus den Gliedern zu schütteln, um dann den Start ins Studentenleben zu wagen.
Als wir in Domburg ankamen, war der Campingplatz noch wie leergefegt. Nur drei oder vier Zelte standen auf einem relativ großen Gelände in weiten Abständen. Kleine Zelte mit bestenfalls zwei Weltenbummlern bestückt. Das Wetter war bescheiden. Eher kühl als warm, und kleine Regenschauer nervten uns beim Aufbau eines historischen Zeltes von irgendeinem elterlichen Dachboden, das aus zwei geräumigen Schlafzelten bestand, die durch einen kubischen Mittelteil verbunden waren. Hier konnte man aufrecht stehen und hier bauten wir unseren Klapptisch mit vier Klappstühlen auf. Nach getaner Arbeit machten wir einen kurzen Rundgang durch unser „Jagdgebiet“ für die nächsten drei Wochen, aber nirgendwo war etwas los, und es ließ sich nur sehr schwer erahnen, wo hier jemals etwas los sein würde. Die ersten Zweifel begannen ihr nagendes Tagewerk. Wir kauften uns ein paar Biere, tranken maßvoll, und durchschliefen die erste Nacht ungestört.
Am nächsten Morgen wurden wir durch ein Kofferradio, das im nächstgelegenen Zelt seine morgendliche Arbeit aufgenommen hatte, geweckt. Eine stark rhythmische Musik, ein scheinbar sinnfreier Text, eine rudimentäre und eingängige Melodie und wir hörten zum ersten Mal, was in den nächsten Monaten die Popcharts überrollen sollte. YUMMY YUMMY YUMMY, I’VE GOT LOVE IN MY TUMMY. In dieser Nacht war uns die Bubble-Gum Music geboren worden und wir wurden Zeuge ihrer Verkündigung. Diese phonetisch anspruchslosen Songs schienen die Jugend der Welt wieder von der Straße zurück in die Kinderzimmer locken zu wollen, und für ein paar Wochen oder Monate hatte mich im Herbst dieses Jahres diese hochinfektiöse musikalische Kinderkrankheit in ihrem Griff. Es war die Party-Time in meinem Leben und dies war Partymusik. Eine Art frühzeitliche Techno-Idee. Spätestens als im Dezember dann die nach einigem Gezeter wegen der Cover-Gestaltung, auch darüber las ich im „Spiegel“, endlich erschienene Langspielplatte der Rolling Stones „Beggars Banquet“ neue Maßstäbe für die Rockkultur setzte, war ich von meiner Regression wieder vollständig geheilt.
Die Sonne war schon früh zum Vorschein gekommen und im Lauf des Tages entwickelte sich sommerliche Wärme. Da in Deutschland und Holland an diesem Tag die Schulferien begannen, bildete sich auf der Straße, die am Campingplatz vorbeiführte, eine lange Autoschlange, und am Abend war das Areal vollständig in Urlauberhand. Allerdings traf sich auf diesem Campingplatz offensichtlich nicht die Jugend der Welt, sondern eine Art deutsch-holländische Familienallianz. Aber das Leben in friedlicher Koexistenz war dann kein Problem.
Unsere Ferien wurden trotz dieser Umstände ein voller Erfolg, spätestens am Strand kam man mit vielen Altersgenossen beiderlei Geschlechts mindestens ins Gespräch, und von einem Kenner der hiesigen Kneipenwelt erhielten wir den Tip, doch einmal das Lokal „La Cave“, in der nächstgelegenen Stadt aus zu probieren. Dort laufe bei weitem die beste Musik in dieser Gegend. Wenn das kein Grund war. Eines Abends machten wir uns dann auf den Weg. Wie sich herausstellte, war das La Cave eines dieser Lokale, wie sie für eine Zeit typisch waren, in der man selbst oft ohne geologische Kenntnisse meinte „underground music“ zu hören und nicht selten dafür tatsächlich in einen Keller hinab steigen musste. Nicht ohne Mühe hatten wir das Lokal nach einigem Suchen gefunden und begaben uns die zahlreichen Stufen nach unten. Dabei hatten wir das Gefühl, uns Schritt für Schritt einem brodelnden Kessel zu nähern: Da waren Stimmen, Tabakqualmwolken und unbekannte süße Düfte waberten uns entgegen und irgendein Song noch ohne genaue Identität war auf dem akustischen Rückzug. Wir öffneten die Türe, schoben einen schweren Filzvorhang zur Seite, das Stimmengewirr schwoll an, und ein neuer Song begann sein Wesen in diesem magischen Raum zu treiben. Eine verhallte akustische Gitarre, eine sanft intonierende, vibrierende Stimme zogen die Aufmerksamkeit sofort auf sich und dann wurde der Sound mächtiger ohne die Transparenz aufzugeben. Es war der Song vom Hurdy Gurdy Man von Donovan, der aus den riesigen Boxen schallte, die nur knapp über den Köpfen der im Raum befindlichen Jugendlichen schwebten, durch schwere Ketten an Wand und Decke gesichert. Ich hatte bis zu diesem Moment nicht gewusst, dass Musik so laut, so total und so berauschend sein konnte. Etwas Historisches war für mich geschehen und Donovan und sein neuer Song wurden zu einem Fixstern in meiner Geschichte des Hörens. Später lernte ich noch, dass die Musiker, die Donovan bei dieser Aufnahme unter Anleitung des Produzenten Mickie Most unterstützten, nur ein Jahr später als Led Zeppelin die Welt des Rock betreten und den Nimbus einer der stilbildenden Supergruppen des Rock erreichten. Aber dies ist ein anderes Kapitel. Sobald ich also das Geld zusammen hatte, besorgte ich mir die LP und fand weitere faszinierende Songperlen, die für meine Ohren gleichzeitig auch Soundperlen waren, wie das mit einem Saxophonsolo gekrönte „Get Thy Bearings“, das indisch verwunschene „Tangier“ und der scheinbar simple, fast mystische „The River Song“. Dann war da noch die nächste Hit-Single „Jennifer Juniper“ und weitere Songs, die wie selbstverständlich auch psychedelische und jazzige Passagen enthielten, die den Moment spiegeln, als Hippie zu sein, noch nicht zum Schimpfwort geworden war. Großartig, zeitlos und durch die ergänzenden Bonus-Tracks in der letzten Wiederveröffentlichung auf CD zusätzlich aufgewertet. Endlich sind damit die Verwerfungen durch die Veröffentlichungspolitik amerikanischer Labels, die gerne mal Songs von den englischen Originalversionen entfernten, dafür aber mit den Titeln der letzten Singles der Band ohne Feingefühl wieder notdürftig auffüllten, geheilt wurden. Ich habe dieser Platte sofort einen Ehrenplatz in meiner Sammlung gegeben! Vielleicht kannst du das ja nachvollziehen, wenn du dieser Platte auch heute noch einmal eine Chance gibst. Das wars jetzt, was ich von Anfang an eigentlich nur kurz versucht hatte mitzuteilen.