lp-stories 4 – louis armstrong „the good book“
Meine erste Begegnung mit dem Backbeat und der schwarzen Musik Nordamerikas war die Louis Armstrong LP „Louis and the Good Book“ von 1958, die es unter zumindest für mich unbekannten Umständen in die eher winzige Plattensammlung meines Vaters geschafft hatte. Ich habe nie von ihm erfahren, wann oder warum das geschehen war. Und ich habe nie den Moment erlebt, in dem er dieser Platte zugehört hat. Ihre Existenz in unserem Haushalt blieb für mich immer ein Rätsel.
Als mein Leben in die jugendliche Phase überging, begann ich zu spüren, dass in der englischsprachigen Musik der Puls der Zeit schlug, doch im deutschen Radio wurden zu Beginn der sechziger Jahre keine englischen Songs gespielt. Also begann ich meine nähere Umgebung abzusuchen und entdeckte diesen musikalischen Schatz. Über viele Jahre, ja Jahrzehnte, stand diese Platte dann irgendwo zwischen meine vielen LPs, mein Vater schien sie ofensichtlich nicht zu vermissen, und immer wenn wir uns begegneten, Louis Platte und ich, hatte ich Lust, sie noch einmal zu hören. Nie wurde sie mir langweilig und nie zu altmodisch. Aber irgendwann, um die Jahrtausendwende herum, entschied ich mich, nachdem ich in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre zu den CDs gewechselt hatte, auch die letzten verbliebenen LPs an Interessierte weiterzugeben, und eine dieser Platten war die, von der hier die Rede ist. Schon seit Jahren stand kein Plattenspieler mehr in unserem Wohnzimmer, also schien mir diese Entscheidung nur folgerichtig
Aber ich hatte die Langzeitwirkung dieser Platte unterschätzt, und begann schon bald nach ihr in einer CD-Version zu suchen. Zunächst ohne Erfolg, denn ich erinnerte mich nicht mehr an den Titel dieser Platte und in den Katalogen, die ich durchblätterte, fand ich sie nicht. Auch auf den Platten- und CD-Börsen, die ich in dieser Zeit regelmäßig besuchte, tauchte sie nicht auf.
Viele Jahre später, es brauchte die Entwicklung des Internet, entdeckte ich sie dann doch, indem ich nach bestimmten Songs suchte, an deren Titel ich mich erinnerte. Als ich sie endlich aus dem Briefkasten fischte und auspackte, war ich irritiert. Ich blickte auf das Cover, Darauf war Louis Armstrong in einer typischen Pose festgehalten, aber vor einem roten Hintergrund. Meines Vaters Platte aber war Hellblau gewesen, und der Titel war bestimmt nicht „Louis and the Good Book“, wie auf dem CD-Cover stand. Die Musik jedoch war 100% die richtige. Diese spezielle Musik von Louis Armstrong war also zurück in meinem Leben. Es gibt ja diese informelle Kategorie: Ich mag zwar keinen Jazz, aber das gefällt mir. Diese Aufnahmen können dafür als Paradebeispiel dienen. Dies ist zwar im Jazzidiom gespielt, aber die volle Konzentration gilt dem Song, der Botschaft, dem Drive. Kein solistischer Firlefanz, sondern knappe und dennoch inspirierte Soli, die sofort auf den Punkt kommen, eine ständiger flow von call and response in den Gesangsparts, der vor allem den andauernden Vorwärtsgang der Musik zugleich bewahrt und kontrolliert, ohne ins Nirvana emotionalen Jubilierens abzudriften, wie uns Westeuropäern die Gospelmusik normalerweise präsentiert wird. Man könnte also sagen, Louis Armstrong versucht sich an einer Unmöglichkeit, einem Widerspruch in sich, eine Art Gospel, wie ihn nur Atheisten hervorbringen können, und wie ihn nur Humanisten wie Louis Armstrong singen können. Gesungen von jemandem, der nicht glaubt, aber die Geschichten liebt, die er erzählt. strahlt diese Platte eine in der Tiefe wirkende Wärme aus. Irgendwo habe ich mal gelesen, Louis Armstrong sei kein gläubiger Mensch gewesen. Diese wunderbare Platte lässt mich das für möglich halten. Mit ihr wendet sich Louis Armstrong nicht an eine Gemeinde, sondern an alle Menschen, und eins lässt sich mit Sicherheit sagen. Mich hat er mit seiner Musik erreicht. Durch sie wurde ich initiiert. Ich wurde ein Rock-, ein Blues- , ein Soul-Hörer. Hier liegt ein wahres Weltkulturerbe vor uns auf demPlattenteller..
P.S. Das Rätsel des hellblauen Covers hatte sich vor einigen Tagen gelöst, als ich die Abbildung zum ersten Mal nach Jahrzehnten wiedersah in einem Ebay-Angebot. Und der Titel der Platte war SWING LOW SWEET SATCHMO. Diese spezielle Platte war eine um einige Jahre verspätete Veröffentlichung für den deutschen Markt, und hier konnte sich keiner was unter einem „Good Book“ vorstellen, also musste der Titel einer Neuschöpfung weichen. Dieser glückliche Fund erinnerte mich daran, dass ich vor Jahren schon einmal mit vier oder fünf Sätzen begonnen hatte, etwas über diese Platte zu schreiben. Jetzt war ich motiviert, die Sache zu Ende zu bringen.