Vor kurzer Zeit feierte der Plattenladen in dem ich seit ewiger Zeit immer mal wieder zum Einsatz komme, sein 25jähriges Bestehen.
Der Ladenbesitzer wurde am Ende des letzten Arbeitstages des Jubiläumsjahres von einem Flashmob überrascht, den seine Lebenspartnerin hinter seinem Rücken, offensichtlich aber auch zu seiner Freude, wie jeder Gratulant sofort erkennen konnte, erfolgreich organisiert hatte.
Da strömten sie aus der winterlichen Kälte herbei: die Freunde, die Geschäftspartner, die Kunden der ersten Stunde, und jene Kunden, die über die vielen Jahre zur „Familie“ dazugekommen waren. Alle schienen eine Verbundenheit mit dem Laden zu empfinden, der in der digitalen Welt der Downloads und des Streamings die Flamme der Freude über die tatsächliche dinghafte Existenz der Dinge weitergetragen hatte. Innerhalb weniger Minuten waren die Schaufenster von innen mit dem Wasserdampf der guten Laune beschlagen.
Weil es diesen Laden, der inzwischen der letzte seiner Art in dieser Stadt ist, immer noch gibt, kann man hier noch etwas Reales, im Hier und Jetzt Existierendes begutachten, bevor man es kauft. Die physischen Tonträger wie Schallplatte und CD stehen hier noch geduldig in Regalen und Kisten, und warten auf Kunden.
An diesem Ort überlebt aber auch die kostbare soziale Institution, die ein „Plattenladen“ über die Jahrzehnte schon immer gewesen ist. Hier finden die Kunden im Idealfall Kompetenz, Empathie und den oft unterhaltsamen Austausch mit Gleichgesinnten – und manchmal sogar das „Teil“ (die Schallplatte), das sie schon immer besitzen wollten. Und auch der eine oder andere Scheinkunde schleicht sich herein, um ein paar Takte Musik zu hören und etwas Wärme zu atmen.
Hier spricht man nicht nur über Musik, hier trifft man Bekannte und Freunde: hier werden Lebenskrisen und Ereignisse aller Art besprochen, aber auch Beziehungen werden gestiftet, denn hier kann man sich auch kennenlernen. Vor allem aber wird hier über die Musik und die Musiker gesprochen und immer wieder auch leidenschaftlich gestritten. Wer den Laden betritt, wünscht sich im gleichen Moment, Zeit zu haben, um hier zu verweilen.
Aber das betrifft nicht jeden. Die digitalen Einkaufsmöglichkeiten, die die Inbesitznahme des ersehnten Artikels unmittelbar ermöglichen, unabhängig von seiner gleichzeitigen Präsenz im Raum, bilden eher den Shoppingtyp des digitalen Zielfahnders heraus, der im Internet nach einem speziellen Produkt seine Angel auszuwerfen gelernt hat. Dieser Kundentypus, kommt in einem realen Laden, zumal des Secondhand Gewerbes, wie in diesem Fall, schnell an seine Grenzen und gibt frustriert auf. Vielleicht fragt er nochmal widerwillig nach dem Wunschartikel, aber die Chance zur Kommunikation, die aus dem vermeintlichen Mangel erwächst, nimmt er nicht wahr.
Der Typus des Analogkäufers hingegen betritt einen secondhand-Schallplattenladen, nicht mit der Enge eines spezifischen Wunschs, sondern mit dem Schleppnetz eines allgemeinen Interesses an der jeweiligen Musik. Er oder sie fragt nicht nach einer bestimmten Platte von Stevie Wonder, sondern erkundigt sich nach dem Bereich des Ladens, wo die Soulplatten stehen. Ob fündig oder nicht, man inspiziert auch noch das Angebot bei anderen Genres und erarbeitet sich so die Struktur des Ladens, der dem unvorbereiteten Beobachter eher wie ein uraltes Biotop der tontragenden Dinge erscheinen muss.
Von einigen Menschen, die diesen Laden in den letzten anderthalb Jahren betreten haben, habe ich mit meinem Handy Fotos gemacht. Dies geschah oft ohne dass der Fotografierte es bemerkte. In den meisten Fällen konnte ich bei der nächsten Begegnung mich offenbaren, oft sogar auch schon das Bild vorweisen, das auf der Grundlage des Fotos von mir angefertigt worden war.
Einige meiner Lieblingsbilder stellte ich sogar im Laden aus. Das führte dazu, dass weitere Bilder auf ausdrücklichen Wunsch der Fotografierten entstanden, weil sie Lust hatten, ein Teil der Bildergalerie zu werden, die auf diese Weise entstand.
Ich habe hier einige der Bilder zusammengestellt, für deren Präsentation ich ausdrückliche Erlaubnis erhielt, bzw. solche, bei denen ich mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen kann, dass ihre Präsentation in diesem Zusammenhang mit nachträglicher Zustimmung des Porträtierten erfolgt. Diese Galerie dient nicht dem Vergleich oder irgendeiner Form der Bewertung einzelner, sondern möchte gerade in ihrer bunten Gesamtheit die Eigenheiten und die Vielfalt der Menschen feiern, die es immer wieder in einen Plattenladen treibt, um vielleicht eine schwarze Scheibe oder eine CD zu finden, die sie begeistert. Oder wie man in alten Zeiten vielleicht gesagt hätte, die ihnen zu Herzen geht. Und ich hoffe, jedes Bild kann transportieren, dass bei diesen Portraits ein „Sympathisant“ am Werk war.