Das Ende
Mit dem Tod von Charlie Watts, dem 80jährigen Schlagzeuger der ROLLING STONES, der sich ereignete, während ich an meinem selbstverordneten Rolling Stones Essay sitze,( der durch dieses Ereignis eine Neubewertung und Neuformulierung vieler Aussagen erfordern wird,) haben sich die Gedankenspiele in den sozialen Medien hin zu der Frage verlagert, ob die Band unter diesen traurigen Umständen weiter Konzerte geben will oder ein endgültiges Karriere-Ende der weltberühmten Band verkünden wird.
Charlie Watts‘ Fortgang hat allen Beteiligten, Musikerkollegen, Freunden und Fans endgültig vor Augen geführt, wie wenig selbstverständlich diese lange Reise durch die Geschichte der Rockmusik war. Selbst wenn die verbliebenen Musiker zu dem Schluss kämen, weiter zu machen, so würden sie wie ihre eigene Tribute-Band wirken, wie eine Reminiszenz an etwas, das nicht mehr ist und mehr war als die Summe seiner Teile, dabei von jedem Faktor abhängig. Es würde deutlich, wie stilprägend Charlie Watts Schlagzeugspiel für diese Band war und damit wie unverzichtbar sein Beitrag. Würde sein Nachfolger durch eine komplette Mimikry versuchen seinen Platz einzunehmen, wäre die Wirkung befremdlich, würdelos und respektlos. Brächte er dagegen seine Identität als Musiker in den Rolling Stones-Kosmos ein, wäre es die Transformation der Band in eine neue andere Identität. Die Rolling Stones hätten aufgehört zu existieren. Die Musiker selbst haben diese Einschätzung mehrfach zum Ausdruck gebracht. Angesichts der Realität des Todes von Charlie Watts wird jetzt aber allen deutlich werden, dass das, was immer auch wie eine Lobeshymne auf den Schlagzeuger interpretierbar war, tatsächlich der bittere Ernst einer Einschätzung war, die sich jetzt bewahrheitet. Sein Tod ist zum Schlussakkord geworden.
Mit dem Ende der größten Rock’n’Roll Band der Welt, endet aber auch die Geschichte des Rock selbst, wie wir ihn kennengelernt, verstanden und mitgelebt haben. Man würde heute vielleicht sagen, das Narrativ „Rock“ habe seine Bedeutung, seine Bezugsgrößen verloren. Die Geschichten von der Hassliebe zwischen dem guten ROCK und dem bösen POP, die wir uns erzählt haben, versteht keiner mehr. Im Zeitalter der multiplen Egos und Identitäten, des manischen Genderns und der Allgegenwart der political correctness Hysterie, offenbart sich die Naivität unseres Authentizitätsbegriffes, mit dem wir uns auf die Suche nach der wahren Musik machten, um zu erfahren, wer wir sind. Rock hieß einmal Befreiung der Rede u.a. zum Thema Sexualität, Befreiung der Lebensentwürfe von der Correctness Zumutung, die Karriere durch Anpassung forderte und die subkulturelle Abweichung denunzierte. Heute ist das Einfordern von Correctness das Geschäft der ideologischen Schergen zahlloser Subkulturen. Der Rockbegriff, der als Kommunikationsangebot Grenzen überwinden konnte durch eine Haltung, hat in den neuen Lebenswelten ausgedient.
Die Rockmusik entwickelte sich parallel zu unseren Biographien, wurde mit uns erwachsen, ist mit uns alt und für Außenstehende schon ein wenig wunderlich geworden. Zum Schluss war sie nur noch eine gemeinsame Erinnerung, fast so etwas wie ein Geheimwissen, mit dem wir die Jüngeren genervt haben. Dieses Leuchten in unseren Augen ist nun endgültig der Trauer gewichen und dem Eíngeständnis, das schon seit einiger Zeit hinaus in die Welt wollte: Es ist vorbei. Vorbei. Aus und Vorbei.
Natürlich wird es eine Zeit nach den Rolling Stones geben. Sie hat eigentlich schon vor vielen Jahren begonnen. Selbstverständlich wird es weiterhin Musik geben, elektrische Gitarren werden die Luft zersägen, „böse“ langhaarige und kurzhaarige Romantiker werden ihre zärtlichen oder leidenschaftlichen Botschaften singen, und sogar der Teufel wird einige Lieder heimsuchen, aber ein Song wird nur noch ein Angebot unter vielen konkurrierenden Angeboten sein und keine Offenbarung. Und ist es nicht so, dass heute das einverständliche Gespräch unter Gleichaltrigen über vegane Ernährung mehr Generationszusammenhalt stiftet als irgendeine Musik.